Die Lehrerin

Deutsche Schule Shanghai // 上海德国学校
Loris, Emily, Michelle, Felicia, Theresa, Lea, Lennard, Nick – das sind die Menschen, die von nun an meinen Donnerstagnachmittag bestimmen werden. Seit letzter Woche bin ich nämlich eine Lehrerin an der Deutschen Schule in Shanghai, wo ich zwei Nachmittagsprogramme veranstalten werde. Unter dem Motto ‘Das Alphabet – 26 neue Freunde’ montags den ‘Bücherwurm’ für die Klassen 1 + 2, und donnerstags die ‘Schreibwerkstatt – Junge Reporter berichten’ für die Klassen 3 + 4.
Mein erster Tag, der hatte es dann auch gleich in sich. Alle Beteiligten versammelten sich auf dem Schulhof, ich hielt mein Schild hoch, in gespannter Erwartung, welcher der jungen Hüpfer sich nun bei mir einfinden würde. Es ging dann gleich mal damit los, dass die ersten Beiden eigentlich lieber zum Backen wollten und ihrer Enttäuschung durch lautes Klagen, gepaart mit der dazu gehörigen Mimik, Ausdruck verliehen. Pädagogisch einfühlsam formulierte Erkenntnisse meinerseits, dass sich im Leben die eigentliche Zweitwahl im Nachhinein nicht selten als Glücksfall entpuppt, zeigten keinen erwähnenswerten Erfolg.
Und wie so oft gibt es auch in meiner Gruppe aus den unterschiedlichsten Sparten jeweils einen Vertreter: Der smarte Computerfan, der sofort angemerkt hat, dass er sich außer Stande sieht ohne echtes Mikro jemanden zu interviewen. Der schüchterne Blonde, der vor jedem gesprochenen und geschriebenen Wort erstmal sehr lange überlegt, ob sich eventuell noch eine bessere Variante finden lässt. Die zwei fast schon vor-pubertären Freundinnen, die in Minuten-Abständen wechseln zwischen schreien, lachen und weinen, und zwischendurch unvermittelt (und zur Belustigung ihrer Klassenkameraden) ihre Shirts nach oben ziehen. Die burschikose Hübsche, die alle Jungs als ihre ‘Feinde’ und alle Mädchen (ungeachtet ihres wirklichen Alters) als ihre ‘kleinen Schwestern’ bezeichnet. Die filigrane Hübsche, die sowohl sehr gut schreiben als auch zeichnen kann. Der ganz liebe Kleine, der beim geringsten Geräusch bzw. der kleinsten Abschweifung vom geplanten Ablauf in eine Vorstufe zur Panik verfällt – der aber bei mir einen Stein im Brett hat, weil er am Schluss meinte: ‘Ist die AG schon vorbei? Schade!’. Und als i-Tüpfelchen: Die mysteriöse Nihilistin, mit der ich gleich zu Beginn eine Krisensituation zu bewältigen hatte.

Kleine Sonne // 小太阳
Als keiner mit ihr zusammen das geplante Interview führen wollte, und ich demonstrieren musste, dass auch Außenseiter durchaus mal das große Los ziehen können, schlug ich vor, dass die Frau Lehrerin (also ich) ihre Partnerin sein könnte. Wie sie das denn fände. Ihre Antwort: ‘Ist mir egal. Total egal. Mit ist alles egal. In welcher AG ich bin, völlig egal. Und wer Sie sind, das ist mir auch egal.’ Nun gut. Ich bin daraufhin ins Philosophieren geraten, wie gut sie es doch habe, so viele schöne Möglichkeiten, Anderen ginge es da viel schlechter, alleine schon im Ausland in die Schule gehen zu dürfen, das wäre ja eine tolle Sache. Und mir persönlich wäre durchaus nicht alles egal, und ich wäre sehr froh, dass sie jetzt in meiner Gruppe wäre, in der tollsten Gruppe von allen, und wir hätten eine schöne Zeit zusammen und sie würde Dinge lernen, von denen sie jetzt noch gar nichts wisse. Darauf hin sie: ‘Ist mir egal. Total egal.’
(Apropos Interview. Persönliches Highlight. Frage: Welches chinesische Essen magst du am liebsten? Antwort: Sushi.)
Die nächste Herausforderung bestand darin, die beiden Zweitwählerinnen davon zu überzeugen, dass es total cool sei, ein Reporter zu sein. Minutenlang habe ich auf die zwei eingeredet und bin mit ihnen das von mir vorbereitete Interviewblatt durchgegangen. Was man dabei über sein Gegenüber erfahren könne…einfach klasse! Die letzte Frage war von mir offen gelassen. ‘Da könnt ihr dann ein eigenes Thema ansprechen, denn schließlich sind wir ja alle Reporter!’ Da steht eine der Beiden auf und brüllt aus Leibeskräften: ‘Ich bin kein Reporter! Ich bin Bäcker!!!’
Die Minuten schlichen dahin, und bevor es schließlich zum Äußersten kam, nämlich dass der Lärm einen vorbei gehenden ‘echten’ Lehrer zur Nachfrage zwingen könnte, kam ich mit dem Vorschlag, doch die letzte halbe Stunde draußen noch was zu spielen. Ranzen aufgesetzt, Stühle hochgestellt, Tür aufgerissen. Und direkt vor unserem Zimmer saß welche Gruppe auf dem Flur? Richtig: Die mit dem Backen.
Auf dem Hof waren dann alle 8 innerhalb eines Augenblicks in alle Richtungen auseinander gelaufen. Das Wort ‘Aufsichtspflicht’ erschien vor meinem geistigen Auge, doch noch während ich mir eine neue Strategie überlegen wollte, kam die Hälfte meiner Gruppe schon wieder auf mich zu gerannt:
‘Frau Blattert, meine Lippe blutet!’
‘Frau Blattert, die Lea hängt im Klettergerüst und kommt alleine nicht mehr runter!’
‘Frau Blattert, wo ist denn der Ball, den sie uns versprochen haben?’
‘Frau Blattert, können wir beim nächsten Mal auch was backen?’
Man hört ja so oft, Lehrer sei ein prima Lowheimer-Job, besonders wegen des frühen Feierabends und der vielen Ferien. Diese Ansicht teile ich seit letzter Woche nicht mehr. Irgendwie finde ich sogar: Lehrer sind Helden! Vor allem diejenigen, die an (ab und zu in den Schlagzeilen auftauchenden) öffentlichen Schulen unterrichten, mit über 40 Leuten in der Klasse, mindestens die Hälfte davon ohne erwähnenswerte Sprachkenntnisse, ein Großteil ohne Bock auf irgendwas. Also, da braucht man die erwähnten Ferien dann aber auch – als Lehrer, meine ich.
In Anbetracht der Tatsache, dass es sich bei meinem Unterricht um ein freiwillig gewähltes Nachmittagsprogramm handelt, bei dem es zu keiner Zeit um Lernfortschritte oder gar Prüfungen geht, und unter Berücksichtigung der Tatsache, dass wir hier von einer recht kostspieligen Privatschule sprechen, die ausnahmslos Kinder aus guten bis sehr guten wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen beherbergt, da muss ich doch zusammenfassend sagen: Ich habe es gut getroffen. Und darüber freue ich mich sehr.